Ich wollte die Wohltorfer Kirche aufräumen. Vor ein paar Tagen hatten wir hier unsere Einschulungsgottesdienste gefeiert. Ungefähr 50 Kinder waren da, zusammen mit ihren Eltern und Familien und ihren neuen Lehrerinnen. Das war ein schöner und aufregender Tag. Aber nun war der Segen gesprochen, und alle Leuchtengel für den Schulranzen waren verteilt.
Als ich jetzt aufräumenderweise die Kirche betrat, sah ich, dass etwas nicht stimmte. Der Flügel war geöffnet, und seine lederne Abdeckung war unordentlich weit nach hinten geschoben. Das war seltsam. Es kommt schon einmal vor, dass Menschen hier Klavier spielen. Natürlich proben hier auch Chöre. Allerdings ist der Flügel danach in der Regel wieder chic und aufgeräumt. Das hier war neu.
Als ich mich näherte, sah ich, dass auf dem Notenhalter des Flügels ein Gesangbuch stand, das mit dem Lied EG 145 aufgeschlagen war. Dessen erste Phrase lautet: „Wach auf, wach auf, du deutsches/unser Land! Du hast genug geschlafen.“
Diese Zeilen musste ich erstmal verarbeiten. Ich weiß, dass die Evangelische Kirche in diesem Jahr 500 Jahre Gesangbuch feiert, womit sie meint, dass vor eben dieser Zeit die ersten evangelischen Gesangbücher gedruckt wurden. Entsprechend gab und gibt es dazu viele Konzerte, Mitsingaktionen, Vorträge und Reden, in denen es als ein „Grundbuch des Protestantismus“ geehrt und sein Inhalt als „großer Reichtum“ und „Schatz“ gelobt wird.
Ob man dabei auch Liedertitel wie EG 145 im Blick hat, weiß ich nicht. Ich jedenfalls fremdelte sehr damit und fragte mich, wer sich wohl dieses Lied zum Spielen oder Singen ausgesucht hatte. Andererseits war mein Interesse geweckt. Denn obwohl es in den letzten 500 Jahren viele Überarbeitungen gegeben hat – die letzte umfassende meines Wissens nach 1990 – ist dieses Lied nach wie vor im Gesangbuch enthalten. „Jemand wird sich etwas dabei gedacht haben.“, dachte ich und recherchierte ein wenig.
Das Lied stammt von Johann Walter, der es 1561 geschrieben hat. Er war Liederdichter, Sänger, Leiter der kursächsischen Hofkapelle, Kantor und ein von Herzen überzeugter Wegbegleiter Luthers, der diesen in musikalischen Fragen zur Ordnung der deutschen (d.h. nicht lateinischen) Messe beraten hat. Walter gilt als „Urkantor“ der lutherischen Kirche. Ein wichtiger Vertreter des Luthertums also.
In genau diese gedankliche Richtung passt auch EG 145: Walter hatte Sorge, dass die religiös-politischen Entwicklungen seiner Zeit die Errungenschaften der Reformation wieder zunichtemachen. Er fürchte den Rückfall in alte theologische Denkmuster, die auch mit alten politischen Ordnungen verbunden waren. Und er fürchtete, dass die Wahrheit des Evangeliums von der freimachenden Gnade und Liebe Christi, unterdrückt oder von Lügen unkenntlich gemacht würde. In seiner Wahrnehmung boten die gesellschaftlichen Missstände in der Mitte des 16. Jahrhunderts genügend Beispiele dafür. Dem wollte er den Ruf zur Buße und die Rückkehr zum Wort Gottes entgegensetzen. Insofern meint sein Text: Wach auf, unser Land, denn das, was du errungen hast, ist in Gefahr.
Puh! Selbst mit diesem Wissen, weiß ich nicht, ob ich das Lied in einem Gottesdienst singen würde. Was ich aber inzwischen weiß, ist, wer es auf dem Flügel aufgeschlagen, gesungen und gespielt hat: Es waren sieben Jugendliche aus Aumühle und Wohltorf, die gerade ihre Ausbildung zur Teamercard begonnen haben. Zu dieser gehört auch, dass man in einem ersten Modul lernt, wie man eine Andacht vorbereitet und feiert. Als Thema haben sie sich dafür selbstständig den aktuellen Rechtsruck in unserem Land ausgesucht. Dem setzten sie „Demokratie, Rechte, Vielfalt und Diversität“ entgegen. So steht es auf ihrem Notizzettel. In Johann Walter, der vor dem Rückfall in alte und eigentlich besiegt geglaubte Zustände warnt, fanden sie offenbar einen theologischen Gewährsmann. Vielleicht ist also an dem unbequemen Lied doch etwas dran … Insofern: Happy Birthday Gesangbuch. Glückwunsch zum 500. Und Happy Reformation!
Ihr Pastor René Enzenauer